Jan Costin Wagner entführt uns in „Das Schweigen“ in die melancholische Welt des Kriminalkommissars Kimmo Joentaa, der mit der schmerzhaften Last des Verlustes kämpft. Vor dem Hintergrund der nordischen Kühle Turku, wo die langen Nächte und die grauen Tage fast erdrückend wirken, entfaltet sich ein komplexes Geflecht aus Schuld, Verlust und Verbrechen.
Die zentrale Geschichte dreht sich um das Verschwinden eines Mädchens, das an der gleichen Stelle geschieht, an der vor mehr als dreißig Jahren ein ähnliches Verbrechen stattfand. Wagner versteht es meisterhaft, die zeitliche Verbindung zwischen den beiden Fällen zu knüpfen, dabei aber stets im Hintergrund zu lassen, dass die Erinnerungen an die alte Tragödie das aktuelle Geschehen überlagern. Kimmo Joentaa, dessen Charakter durch das Gewicht seiner Vergangenheit geprägt ist, bleibt dem Schmerz und der Hoffnung der betroffenen Familien eng verbunden. Seine Zurückhaltung, die Eltern von Sinikka Vehkasalo in ihrer Hoffnung zu enttäuschen, offenbart nicht nur seine Empathie, sondern auch seine innere Zerrissenheit.
Wagners Stil ist durch seine präzisen Beschreibungen und die tiefgründige Psychologie der Charaktere geprägt. Der Autor schafft es, durch schlichte, aber einprägsame Sprache die innere Einsamkeit seiner Protagonisten und die geschlossene Atmosphäre von Turku greifbar zu machen. Ihre Dialoge sind oft spare, aber voller unausgesprochener Gedanken und Gefühle, die eine greifbare Spannung erzeugen. Es ist faszinierend, wie er mit wenigen Worten die innere Welt seiner Charaktere entblättert, sodass man als Leser förmlich mit ihnen fühlt.
Besonders beeindruckend ist, wie Wagner die Themen Schuld und Sühne aufgreift und sie durch die Beziehungen zwischen den Charakteren widerspiegelt. Joentaa ist nicht nur Ermittler, sondern auch ein Mensch, der selbst die seelischen Narben eines Verlusts mit sich trägt und die Ungewissheit, wie sie mit der Vergangenheit umgehen, ergründet. Neben ihm prägen auch die Eltern von Sinikka die Erzählung auf eine eindringliche Weise – ihre Trauer und Hoffnung stehen in starkem Kontrast zu Joentaas rationalem Denken.
Das Buch gelingt es, die Leserschaft durch seine dichte Atmosphäre einzufangen und gleichzeitig eine tiefgründige Reflexion über die menschliche Psyche und die Frage, was es bedeutet, mit der Ungewissheit zu leben, zu bieten. Obwohl die Handlung anfangs langsam voranschreitet, intensiviert sich die Spannung allmählich, bis sie schließlich zu einem packenden Höhepunkt führt.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass „Das Schweigen“ ein eindringlicher Krimi ist, der durch starke Charaktere und eine düstere, fesselnde Atmosphäre besticht. Jan Costin Wagner versteht es, den Leser in die Tiefen der Trauer und der unbeantworteten Fragen zu ziehen und dabei die Komplexität menschlicher Emotionen herauszuarbeiten. Dieses Buch ist keine leichte Kost, sondern eine berührende Auseinandersetzung mit unsichtbaren Wunden und der Bedeutung von Erinnerungen – und genau darin liegt seine Stärke.