Buchreview: "Am Himmel die Flüsse" von Michaela Grabinger & Elif Shafak
Mit „Am Himmel die Flüsse“ ist den Autorinnen Michaela Grabinger und Elif Shafak ein eindringliches Meisterwerk gelungen, das die Leser auf eine emotionale Reise durch Zeit und Raum mitnimmt. Die Geschichte folgt der neunjährigen Narin in ihrem ezidischen Dorf am Tigris, dessen Schicksal durch ein Dammbauprojekt bedroht ist. Diese unmittelbare Bedrohung ist der Ausgangspunkt für eine tiefgründige Erzählung, die geschickt historische und gegenwärtige Themen verwebt.
Die Protagonistin Narin wird von einer starken familiären Tradition und der spirituellen Reise ihrer Großmutter begleitet, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, ihre Enkelin an einem „unberührten Ort“ taufen zu lassen. Hierbei wird der Leser in die kulturelle Tiefe und religiöse Symbolik der ezidischen Gemeinschaft eingeführt. Besonders faszinierend ist die Entdeckung eines Grabes, das die Brücke zwischen dem viktorianischen London und Narins eigener, von Vertreibung geprägten Geschichte schlägt. Durch die Figur des Arthur, einem Jungen aus einem völlig anderen Kontext und einer anderen Zeit, wird das Gefühl der Entfremdung und der Suche nach Identität auf beeindruckende Weise vermittelt.
Shafaks Schreibstil ist lyrisch und doch klar, fesselnd und emotional aufgeladen – sie schafft es, die existenziellen Fragen von Zugehörigkeit, Verlust und der Suche nach einem Platz in der Welt zu thematisieren, ohne dabei in Klischees abzurutschen. Die Spannung zwischen fortwährendem Wandel und dem Festhalten an Traditionen spielt eine zentrale Rolle und entfaltet sich in den Schicksalen der Figuren.
Die Autorinnen zeigen auch die Stärke der weiblichen Perspektive, indem sie die verschiedenen Generationen von Frauen darstellen, die trotz äußerer Umstände und gesellschaftlicher Spannungen ihren eigenen Weg suchen. In „Am Himmel die Flüsse“ wird deutlich, wie die Vergangenheit weiterlebt und unsere Gegenwart beeinflusst. Jedes Kapitel ist durchzogen von einem Gefühl des Verlustes, aber auch der Hoffnung, das die Leser dazu anregt, über die Konflikte und die Widerstandsfähigkeit der Menschheit nachzudenken.
Insgesamt ist „Am Himmel die Flüsse“ ein eindrucksvoller Roman, der nicht nur unterhält, sondern auch zum Nachdenken anregt. Ein Buch, das man nicht nur liest, sondern auch fühlt – ein literarisches Ereignis, das in Erinnerung bleibt. Der Carl Hanser Verlag hat mit dieser Veröffentlichung ein wichtiges Werk der zeitgenössischen Literatur hervorgebracht, das gleichermaßen Historie und menschliche Schicksale beleuchtet. Ein Muss für alle, die sich für die Verbindung von Literatur und gesellschaftlichen Themen interessieren.